Ein Gespräch mit einem Kandidaten hat uns kürzlich zum Nachdenken gebracht. Der Bewerber, zweifellos ein Top-Profil, schilderte eine Erfahrung, die beispielhaft für einen bedenklichen Trend steht: Vor zwei Jahren bot ihm ein Unternehmen 20.000 Euro zusätzliches Gehalt, nur um ihn zu überzeugen, die Stelle anzunehmen. Heute soll er für dieselbe Position im Tarifgefüge einsteigen. Zudem wird von ihm erwartet, montags und freitags im Büro zu erscheinen, als sei das eine Selbstverständlichkeit.
Diese Veränderung in der Haltung von Unternehmen lässt aufhorchen. Sie zeugt nicht nur von mangelnder Wertschätzung, sondern auch von einem gefährlichen Kurzzeitgedächtnis.
In den letzten Jahren erlebte der Arbeitsmarkt eine Verschiebung hin zu einem klaren Kandidatenmarkt. Unternehmen waren gezwungen, sich als attraktive Arbeitgeber zu positionieren, Homeoffice anzubieten, Gehälter nach oben anzupassen und Prozesse zu beschleunigen. Jetzt, da sich die wirtschaftliche Lage eintrübt und sich wieder mehr Menschen auf Stellenausschreibungen melden, scheint bei einigen Entscheidern die Vorstellung aufzukommen: Endlich können wir wieder diktieren, wie der Hase läuft.
Doch dieser Gedanke ist trügerisch.
Ein vergrößertes Bewerberaufkommen ist kein Garant für bessere Passung oder nachhaltige Besetzungen. Denn Quantität ersetzt nicht Qualität. In der Praxis sehen wir immer wieder: Nur ein Bruchteil der Bewerber erfüllt tatsächlich die Anforderungen. Und Top-Kandidaten wissen genau, was sie wert sind, unabhängig von Konjunktur oder Marktlage.
Wer glaubt, man könne nun wieder Gehälter kürzen, Benefits streichen und starre Präsenzpflichten einführen, vergisst, dass sich der Arbeitsmarkt nicht nur strukturell, sondern auch kulturell verändert hat.
Viele Bewerber haben sehr bewusst erlebt, wie stark ihr Profil in Zeiten des Fachkräftemangels gefragt war. Diese Erfahrung prägt. Wer damals überdurchschnittlich umworben wurde, merkt schnell, wenn ihm heute mit weniger Respekt oder geringerer Entlohnung begegnet wird. Solche Eindrücke bleiben haften und sie beeinflussen langfristig die Entscheidung, wo man sich bewirbt oder wem man auf Dauer vertraut.
Personalgewinnung ist kein kurzfristiges Spiel. Sie basiert auf Vertrauen, Glaubwürdigkeit und konsistenter Arbeitgeberkommunikation. Wer diese Prinzipien über Bord wirft, weil sich das Verhältnis von Angebot und Nachfrage verändert, sendet ein klares Signal: Unsere Versprechen gelten nur, solange wir euch brauchen. Das wirkt abschreckend und führt genau zu dem, was viele Arbeitgeber gerade vermeiden möchten: sinkende Bewerbungszahlen und wachsende Skepsis im Markt.
Arbeitsmärkte sind dynamisch. Doch Menschen merken sich, wie man mit ihnen umgeht, besonders in schwierigen Zeiten. Arbeitgeber, die jetzt auf kurzfristige Kontrolle setzen, riskieren langfristigen Vertrauensverlust. Wertschätzung, Flexibilität und faire Bezahlung dürfen keine Konjunkturthemen sein. Sie sind die Basis für nachhaltige Beziehungen zwischen Unternehmen und Mitarbeitenden.